Blinde Sopranistin Gerlinde Sämann: Wandlungsfähige Stimme und riesiges Repertoire

Musizieren und Singen soll laut Klischee zu den besonderen Fähigkeiten blinder Menschen gehören. Wenn eine solche Person dann aber tatsächlich und leibhaftig singend auf der Bühne steht, hat das schnell den Charakter einer Sensation, die das Publikum und die Medien mit erstauntem Raunen registrieren.

Rheinsberg Festival als künstlerischer Durchbruch

So war es auch im Jahre 1999 beim Rheinsberg Festival während des Auftritts der jungen Sopranistin Gerlinde Sämann in der Ein-Frau-Oper „Die menschliche Stimme“ von Francis Poulenc. Gewiss wurde ihre starke stimmliche und tänzerische Präsenz auf diesem Nachwuchsfestival sowohl bemerkt wie auch gewürdigt. Doch selbst Siegfried Matthus, der damaliger Chef der Kammeroper Schloss Rheinsberg wies ausdrücklich auf die Blindheit der Sängerin hin, „die der Figur eine ganz besondere Dimension“ gibt. Ob das stimmt oder nicht mag Ansichtssache sein. Die Künstlerin selbst geht nicht davon aus, dass ihre Blindheit bezogen auf den Stil ihres Gesanges besonders viel Bedeutung hat.

Aber dieser Rheinsberg Auftritt scheint aus eindeutig künstlerischer Perspektive der ganz große Durchbruch für die 1969 in Nürnberg geborene Sängerin gewesen zu sein, die seit 1991 als Solosopranistin unterwegs ist. Zwar geisterte der Hinweis auf ihre Blindheit seinerzeit wie ein roter Faden durch den Blätterwald. Aber andererseits überboten sich die Medien in ihrer Begeisterung über die mitreißende Ausdruckskraft von Gerlinde Sämann beim Zwiegespräch mit einer imaginären männlichen Personen, die nur in Form eines Telefons anwesend war, Der Berliner Tagesspiegel beispielsweise attestierte ihr „in ihrem weichen und doch festen Sopran“ eine „ungewohnt starke Innerlichkeit“.

Alte Musik und Avantgarde

Heutzutage ist Gerlinde Sämann, die am Anfang ihrer Laufbahn am Richard Strauss Konservatorium in München Gesang und Klavier studierte, eine viel beschäftige Künstlerin. Sie wird immer wieder von Sigiswald Kuijken und Ton Koopman engagiert, arbeitet u. a. mit dem Dresdener Kreuz- und Kammerchor oder dem Choer de Chambre Accentus und dem Ensemble für Alte Musik Berlin. Mit dem Ensemble VokaMe hat sie u. a. die CD „Inspiration“ mit Musik von Hildegard von Bingen aufgenommen und beim diesjährigen MDR Musiksommer war sie ebenfalls zu hören.

Die Sängerin, deren besonderes Markenzeichen eine ungewöhnlich wandlungsfähige Stimme ist, verfügt auch über ein Repertoire, das einen Großteil der Musikgeschichte abbildet und auf einzigartige Weise zum Leben erweckt. Selbst mittelalterliche Musik hat sie schon vokal interpretiert – aber auch Impressionismus, Neue Musik und Avantgarde. Zu J. S. Bach hat sie ein ganz besonderes Verhältnis, wie sie im Jahre 2009 in einer Sendung von Deutschlandradio Kultur erklärte. Auslöser dafür sei die Matthäus Passion gewesen, die sie im Alter von 11 Jahren zum ersten Mal gehört hatte. Sie vermutet sogar, dass dieses „prägende Erlebnis“ sie auf die Idee gebracht hätte, Musikerin zu werden.

Gesang war ursprünglich Notlösung

Ursprünglich wollte sie allerdings nicht Sängerin, sondern Begleitpianistin werden. Letzteres ist jedoch ein Job, der ohne Augenlicht kaum möglich ist, weil dabei überwiegend vom Blatt gespielt werden muss. Das erforderliche Repertoire ist so uferlos groß, dass es sich mit der Methode des Auswendiglernens nicht aneignen lässt. Darum hatte sie den Gesang zunächst nur als Notlösung gewählt. Die Notlösung wurde ihr Beruf – zum Glück für alle Musikfreunde – denn laut Süddeutscher Zeitung singt Gerlinde Sämann „so schön, dass Mauern dazu tanzen könnten.“.

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